Kann einer Postkolonialer Spaziergang das Denken verändern? Ich glaube, es ist ein Anfang. Um Abgründe und neue Erkenntnisse geht es in diesem Beitrag. Es geht auch um internalisierten, strukturellen Rassismus, von dem ich mein Denken befreien möchte.
Es gibt zu diesem Rundgang jetzt auch einen Audio-Guide von Postcolonial Potsdam.
Mehr als ein Rundgang
Erst waren es die Geschichten, die ich von dem Spaziergang mitnahm. Im Laufe der Wochen beschäftigte ich mich mehr und mehr mit dem Rassismus, der hinter dem Kolonialismus steht. Mir wurde klar, dass der Kolonialismus nicht nur Spuren in Sanssouci, sondern auch in unseren Köpfen hinterlassen hat. Ich habe nicht das Gefühl, dass der Kolonialismus in Deutschland genug Aufarbeitung erfährt. Auch bei der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten beginnt diese Aufarbeitung erst in dieser Zeit.
Postkolonialer Spaziergang
Durch den Park führen uns Anna und Lina, zwei Mitglieder des Arbeitskreises Postcolonial Potsdam. Der Arbeitskreis möchte ein Bewusstsein für koloniale Geschichte Potsdams und Brandenburgs schaffen. Er bietet den Postkolonialen Spaziergang und Lehrmaterial an. Die Teilnahme an dem Spaziergang ist kostenlos. Das Wissen und noch mehr die Anregungen zum Weiterdenken sind jedoch so wertvoll, dass ich euch empfehle, den Spaziergang einmal mitzumachen. Es ist eine dieser seltenen Chancen zum Hinterfragen dessen, was in uns verwurzelt zu sein scheint – ohne, dass wir es (an)erkennen.
Der Schwarze Soldat
Das Neue Palais wurde von Friedrich II. als Prunkbau in Auftrag gegeben. Ziel war es, nach dem Sieg gegen Frankreich im siebenjährigen Krieg die Macht Preußens zur Schau zu stellen. Obwohl die Periode des Barock bereits durch den Klassizismus abgelöst war, zog man hier noch einmal alle Register des Hochbarock.
Die Figuren, mit denen das Neue Palais reich geschmückt ist, erzählen eine Geschichte der Helden und deren Siege. Auf der Gartenseite des Neuen Palais wird der Mythos des Perseus besonders thematisiert. Ganz links außen befindet sich an einem Laternenmast ein Schwarzer Soldat. Es ist die Figur, die Anna und Lina zuerst neugierig machte. Sie forschten nach, was es damit auf sich hat. Warum gibt es gerade hier einen Schwarzen Soldaten und warum ist er der einzige Schwarze? Gehört auch er zu einer antiken Sage? Sie fanden zwar keine direkte Antwort auf diese Fragen, stießen aber auf Spuren des Kolonialismus im Park Sanssouci.
Der Gipfel des Kilimandscharo im Neuen Palais
Zuerst klingt das, was Anna und Lina erzählen, wie eine lustige Anekdote, die auch ihr vielleicht schon einmal gehört habt. Im Grottensaal des Neuen Palais soll sich ein Gesteinsstück von der Gipfelspitze des Kilimandscharo befinden. Doch die Geschichte stimmt, irgendwie. Es lohnt sich, die komplexen Hintergründe genauer zu erforschen (Google ist sehr hilfreich).
Zum Ende des 19. Jahrhunderts eignete sich das Deutsche Reich unter Kaiser Wilhelm I. und Reichskanzler Bismarck Gebiete im Osten Afrikas an. Darunter war auch das heutige Tansania. Hier befindet sich das größte Bergmassiv Afrikas. Der höchste Berg, Kibo / Uhuru-Peak genannt, war Ziel der Expedition des Geografen Hans Meyer. Er bezeichnete sich als Erstbesteiger und verlieh den Kibo den Namen „Kaiser-Wilhelm-Spitze“. Für sich und den Kaiser nahm er Gestein vom Gipfel des Berges mit ins Deutsche Reich. Einer der Steine fand seinen Platz im Grottensaal, den anderen behielt Mayer selbst. Hatte er das Recht, sich so zu bezeichnen? Wer wohnte eigentlich dort? Das Volk der Chagga.
Geraubte Instrumente vor dem Orangerieschloss
Wir wandern weiter durch den Park, bis wir in einem Rondell auf die Sichtachse zum Orangerieschloss blicken. Im Schatten lassen wir uns nieder. Anna und Lina zeigen uns alte Fotos. Darauf sieht man auf der oberen Terrasse des Orangerieschlosses interessante Apparaturen. Von 1901 bis 1920 befanden sich an dieser Stelle astronomische Instrumente aus dem Alten Observatorium in Beijing. Sie wurden von deutschen Soldaten nach der Niederschlagung der Yihetuan-Bewegung geraubt, auf der Terrasse des Orangerieschloss ausgestellt und später im Rahmen des Versailler-Vertrags zurückgegeben.
Deutsche Kolonie in China
Ich wusste vorher nicht, dass Deutschland in China eine Kolonie betrieb. An der Bucht von Jiaozhou nahm man die Stadt Quingdao ein, unter dem Vorwand, dass Missionare getötet worden seien (Juye Vorfall 1897).
Ich hätte auch nichts mit dem Begriff Yihetuan anzufangen gewusst, aber die „Boxeraufstände“ waren mir bekannt. Unter diesem Namen kennt man die Bewegung in Deutschland, die sich gegen die fremden Besatzer auflehnte. In China wollte Yìhétuán Yùndòng (Bewegung der Verbände für Gerechtigkeit und Harmonie) gegen den Imperialismus der westlichen Mächte ankämpfen. Der deutsche Kaiser schickte ein Aufgebot deutscher Soldaten nach China, um seine Macht durchzusetzen.
Lina erzählt, dass ihr Urgroßvater auch zu den Soldaten gehörte, die per Schiff nach China geschickt wurden. Bis vor Kurzem wusste sie nicht, dass er dort als Soldat eingesetzt war. Bestimmt ist sie nicht die Einzige, deren Verwandte in China Soldaten waren. Vielleicht ist es schon bei vielen in Vergessenheit geraten.
Mit der berüchtigten „Hunnenrede“ verabschiedete der deutsche Kaiser Wilhelm II. die Soldaten in Bremerhaven nach China. Die Rede stachelte zu äußerster Grausamkeit an („Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht!„). Gnadenlos massakrierte man diejenigen, die sich auflehnten.
Nachdem die Deutschen, zusammen mit anderen westliche Mächten, die Überhand gewannen, mussten die Chinesen demütigenden Bedingungen zustimmen. Dazu gehörte ein Sühneakt im Neuen Palais. Zahn Wei (oder auch „Prinz Chun“ genannt, bei der Suchmaschine Baidu nach „爱新觉罗·载沣“ suchen) musste 1901 als Sondergesandter nach Potsdam reisen und sich beim Kaiser entschuldigen.
Chinesisches Haus im Park Sanssouci
Was ist am Chinesischen Haus „echt chinesisch“? Anna und Lina meinen, es sei sehr wenig. Von 1755 bis 1764 wurde der Pavillon im Stil der Chinoiserie erbaut. Das war damals Zeitgeschmack. Auch an anderen Orten finden sich Gebäude im Stil der Chinoiserie. Das einzig chinesische Original befindet sich auf der Wiese. Es ist das Dampfgefäß mit den Swastiken.
Groß Friedrichsburg und Sklavenhandel
Der Spaziergang führt uns weiter. Vor Schloss Sanssouci bleiben wir stehen. Hier holen die beiden eine Zeitachse hervor, um uns zu zeigen, welcher Vorfahr des Alten Fritz die Kolonialisierung begann. Friedrich Wilhelm von Brandenburg („Der Große Kurfürst“) sah, dass der Überseehandel auch kleineren Staaten große Gewinne einbrachte. Er entsandte eine Flotte und forcierte den Aufbau eines Kolonialreichs (in einem vergleichsweise kleinen Maßstab). So entstand in Ghana die Kolonie „Groß Friedrichsburg“. Von hier aus verschiffte man versklavte Menschen in die Karibik.
Versklavte Menschen kamen auch nach Preußen. Hatte ich mir darüber vorher schon einmal Gedanken gemacht? Nein. Ich war erschrocken darüber, so naiv gewesen zu sein.
Unter Friedrich Wilhelm I. wurde Groß Friedrichsburg an die Niederländer verkauft. Auch am preußischen Hof gab Schwarze Bedienstete, die auf einigen Gemälden porträtiert sind.
Das M-Rondell / das Erste Rondell
Unsere letzte Station ist das Erste Rondell. Hier befinden sich zwei Marmorbüsten, die Schwarze Menschen porträtieren. Es handelt sich um Kopien. Die Originale findet ihr im Schloss Caputh. Nach wem die Originale modelliert wurden und wen die Büsten darstellen, ist nicht bekannt.
Vor einiger Zeit nannte man das Erste Rondell noch anders. Nach einigen Jahren der Kritik fand man dann aber heraus, dass er ursprüngliche Name des Rondells wohl nicht rassistisch war und so wählte man den aktuellen Namen.
Erste Erkenntnisse
Das Thema ist komplex und heiß diskutiert. Je mehr ich mich damit befasse, desto verwirrender ist alles. Mir fallen Denkmuster auf, die ich vorher nicht hinterfragte.
Eines ist mir einigermaßen klar: ich habe Privilegien, derer ich mir nicht bewusst bin. Ich gehöre keiner marginalisierten Gruppe an. Und so kann ich auch nicht genau wissen, wie Rassismus sich anfühlt. Das Einzige, was ich tun kann, ist Schwarze Menschen zu unterstützen und mich weiterbilden. Für die Denkanstöße bin ich dankbar. So ein Postkolonialer Spaziergang bringt Steine ins Rollen.